LESEPROBE:
Hier lesen Sie einen
Original-Ausschnitt aus dem ersten Kapitel von „Fluriel, der Engel,
der Angst vor dem Fliegen hatte.“
Kapitel 1: Fluriel im Himmel
Fluriel war ein ganz normaler Engel.
Aber was ist schon normal? Wie bei den Menschen gibt es auch bei den
Engeln ein paar Dinge, durch die man sich von anderen unterscheidet.
Manche sind etwas größer, manche etwas kleiner. Manche sind etwas
schwerer, manche sind etwas leichter. Manche sind etwas flinker, manche
etwas behäbiger. Manche sind eher schweigsam, andere gesprächiger. Und
manche sind mutig, andere dagegen ängstlich. Fluriel war eher ein etwas
kleiner, schwerer, behäbiger und vorlauter Engel. Und er war ängstlich.
Ziemlich ängstlich sogar. Fluriel würde sagen, er sei vorsichtig. Na ja,
die anderen Engel – und von denen gab es viele – waren da
anderer Meinung.
Aber außer seiner Angst war Fluriel
ein ganz normaler Engel. Er hatte zwei Beine, mit denen er Gehen konnte,
er hatte zwei Arme und Hände, mit denen er hantieren konnte und er hatte,
wie es sich für einen richtigen Engel gehört, auch zwei Flügel, mit denen
er Fliegen konnte. Am meisten benutzte er seine Beine. Hin und wieder
benutzte er seine Arme und nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ,
benutzte er seine Flügel. Am liebsten verschränkte er seine Arme und
faltete die Flügel so eng zusammen, dass man fast nicht mehr erkennen
konnte, dass er ein Engel war.
Er
fand, dass seine Flügel zu kurz geraten waren. Der liebe Gott hätte sie
– in Anbetracht des Gewichtes, das sie zu tragen haben, etwas
größer ausfallen lassen können. Jedenfalls wurden die Flügel durch den
seltenen Gebrauch weder größer noch muskulöser. Der wahre Grund, weshalb
er seine Flügel selten benutzte war der: Fluriel hatte – man mag es
kaum glauben – eine unglaubliche Angst vor dem Fliegen. Immer, wenn
er keinen festen Boden mehr unter den Füßen spürte, fuhr es ihm in den
Bauch und manchmal wurde ihm auch schwindelig. Fliegen sei etwas für
Fliegen, sagte er immer mit einem Lächeln. Aber das Lächeln verzog sich
stets merkwürdig, wenn er sich in Gedanken vorstellte, wie er sich in die
Luft erhob. …
© 2010 Matthias Dauenhauer
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